Die Europäische Union steht vor einer besorgniserregenden ökonomischen Realität. Steigende Energiepreise setzen Unternehmen und Verbraucher gleichermaßen unter Druck, während die Inflation Rekordhöhen erreicht. Diese Entwicklung birgt die Gefahr einer Stagflation – einer wirtschaftlichen Ausnahmesituation, in der Wachstum stagniert und die Inflation gleichzeitig hoch bleibt. Die Warnsignale häufen sich, und die Folgen könnten für die europäische Wirtschaft langfristig verheerend sein.
Was ist Stagflation?
Der Begriff „Stagflation“ beschreibt eine wirtschaftliche Lage, die durch zwei scheinbar gegensätzliche Entwicklungen geprägt ist: stagnierendes oder rückläufiges Wirtschaftswachstum und anhaltend hohe Inflation. Typischerweise tritt Inflation in Zeiten wirtschaftlicher Expansion auf, während stagnierendes Wachstum oft mit Preisstabilität oder Deflation einhergeht. Die gleichzeitige Präsenz beider Phänomene ist deshalb besonders problematisch, da sie die traditionellen wirtschaftspolitischen Instrumente nahezu wirkungslos macht.
Ein bekanntes Beispiel für Stagflation stammt aus den 1970er Jahren, als die Ölkrise zu drastischen Preisanstiegen führte und die globale Wirtschaft in eine Rezession stürzte. Experten warnen nun, dass Europa vor einer ähnlichen Entwicklung stehen könnte – ausgelöst durch die Energiekrise, die durch den Krieg in der Ukraine und geopolitische Spannungen verschärft wurde.
Energiepreise treiben Inflation in die Höhe
Die Energiekosten in Europa sind in den letzten zwei Jahren explodiert. Laut Eurostat stieg der Preis für Erdgas im Jahr 2023 im Vergleich zu 2021 um über 70 Prozent. Stromkosten erhöhten sich in vielen Mitgliedsstaaten um 30 bis 50 Prozent. Besonders betroffen sind Länder wie Deutschland und Italien, deren Industrien stark auf Energie angewiesen sind. Die Inflation in der Eurozone erreichte im Dezember 2023 einen Wert von 6,8 Prozent – weit über dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) angestrebten Ziel von zwei Prozent.
Die steigenden Energiepreise wirken sich direkt auf die Produktionskosten aus. Unternehmen geben diese Belastung in Form höherer Preise an die Verbraucher weiter, was die Lebenshaltungskosten weiter in die Höhe treibt. Laut einer Studie der Europäischen Kommission sind etwa 43 Prozent der Inflationsrate in der EU direkt auf die Energiepreise zurückzuführen.
Wirtschaftswachstum gerät ins Stocken
Gleichzeitig schwächt sich das Wirtschaftswachstum ab. Im dritten Quartal 2023 wuchs das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone laut Eurostat nur um 0,1 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. In einigen Ländern wie Deutschland und den Niederlanden schrumpfte die Wirtschaft sogar. Gründe dafür sind neben den hohen Energiekosten auch die sinkende Nachfrage der Verbraucher, die ihre Ausgaben aufgrund der Teuerung einschränken.
„Die Kombination aus hohen Preisen und geringem Wachstum ist ein toxischer Cocktail“, warnt der Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). „Unternehmen zögern mit Investitionen, und Haushalte verlieren Kaufkraft. Das führt zu einem Teufelskreis, der die Erholung der Wirtschaft weiter behindert.“
Die Rolle der Europäischen Zentralbank
Die Europäische Zentralbank steht vor einem Dilemma. Um die Inflation zu bekämpfen, hat sie den Leitzins mehrfach angehoben. Doch diese Maßnahmen belasten gleichzeitig die ohnehin fragile Konjunktur. Höhere Zinsen verteuern Kredite für Unternehmen und Haushalte, was die Investitions- und Konsumfreude weiter dämpft. EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte kürzlich: „Wir sind entschlossen, die Inflation zu senken, aber wir müssen dabei auch die wirtschaftliche Stabilität im Blick behalten.“
Kritiker warnen, dass die derzeitige Zinspolitik nicht ausreicht, um die strukturellen Probleme der Energiekrise zu lösen. Der Ökonom Nouriel Roubini, bekannt für seine düsteren Prognosen, sieht die EU auf einem „gefährlichen Pfad“. Ohne grundlegende Reformen im Energiesektor und eine Abkehr von der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen werde Europa die wirtschaftliche Stagnation nicht überwinden können, so Roubini.
Gefahr für die soziale Stabilität
Die Auswirkungen der Energiepreise sind nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch sozialer Natur. In vielen Ländern spitzt sich die Lage der unteren Einkommensgruppen zu. Laut einer Umfrage des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) können sich 15 Prozent der Haushalte in der EU die Beheizung ihrer Wohnungen im Winter nicht mehr leisten. Sozialproteste und Streiks nehmen zu, insbesondere in Frankreich und Spanien, wo die Lebenshaltungskosten traditionell ein politisch sensitives Thema sind.
Politische Maßnahmen wie Subventionen oder Preisdeckel haben kurzfristig für Entlastung gesorgt, drohen aber langfristig die öffentlichen Haushalte zu überlasten. Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt vor einer wachsenden Staatsverschuldung, die in Kombination mit hohen Zinsen zu einer neuen Schuldenkrise führen könnte.
Ein Weg aus der Krise?
Die EU steht vor der schwierigen Aufgabe, einen Ausweg aus der drohenden Stagflation zu finden. Experten fordern massive Investitionen in erneuerbare Energien, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Gleichzeitig müsse die Sozialpolitik gestärkt werden, um die wachsende Ungleichheit zu bekämpfen.
Doch der Weg ist lang und voller Unsicherheiten. „Die Stagflation ist nicht unausweichlich, aber wir müssen jetzt handeln“, warnt Fratzscher. Ohne entschlossenes Handeln droht Europa in eine wirtschaftliche und soziale Krise abzurutschen, deren Folgen die Union über Jahre hinweg belasten könnten.
Quellen:
- Eurostat: Link zur Statistik
- Europäische Zentralbank: EZB-Pressemitteilung
- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: DIW-Studien
- Europäische Kommission: Bericht zur Inflation
- Europäisches Gewerkschaftsinstitut: Umfrageergebnisse
- Internationaler Währungsfonds: IMF-Bericht
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