Das neue Gesicht des Kriegs: Der Feind im Innern
Die Ukraine steht nicht nur militärisch unter Druck – auch innenpolitisch brodelt es. Angesichts schwindender Rekrutenzahlen und wachsender Kriegsmüdigkeit greift Präsident Wolodymyr Selenskyj zu drastischen Mitteln. In einer Rede am 25. März ließ er keinen Zweifel: Wer sich dem Wehrdienst verweigere, werde „Konsequenzen zu spüren bekommen, die den Ernst der Lage widerspiegeln“. Laut Daten des ukrainischen Verteidigungsministeriums fehlen aktuell rund 500.000 Soldaten an der Front, während die Zahl der Wehrpflichtigen seit Anfang 2024 um 38 Prozent zurückgegangen ist. Ein interner Lagebericht der Armee, über den Ukrainska Pravda berichtete, beschreibt die Situation als „prekär“. Die Regierung plant nun, ein neues Wehrdienstgesetz zu verabschieden, das unter anderem eine Ausweitung der Altersgrenze auf 60 Jahre, die Möglichkeit zur Zwangseinberufung und drastische Strafen für Verweigerer vorsieht. Wer sich entzieht, muss mit Freiheitsstrafen, Beschlagnahmung von Eigentum oder Zwangsverlegung rechnen. Aktivisten sprechen von einer „Militarisierung der Gesellschaft unter Zwang“. Während Kiew nach außen für Freiheit kämpft, wächst im Innern die Angst vor autoritären Mitteln.
Zwang gegen Zivilisten: Eine Grenze wird überschritten
Die geplanten Maßnahmen stoßen auf massive Kritik, selbst aus dem Umfeld der Regierung. Der ehemalige ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Mykola Horeniak warnte in einem Interview mit Kyiv Independent: „Wenn der Staat beginnt, seine Bürger wie Feinde zu behandeln, hat er bereits verloren.“ Das neue Wehrdienstgesetz sieht nicht nur drastische Strafen vor, sondern erlaubt auch die Erfassung von Männern über Mobilfunkdaten – ein Eingriff, den viele Juristen als verfassungswidrig einstufen. Seit Beginn des Krieges wurden laut Human Rights Watch über 14.000 Männer wegen Wehrdienstverweigerung strafrechtlich verfolgt. Besonders in den westlichen Regionen der Ukraine, wo die Unterstützung für die Regierung bröckelt, häufen sich Berichte über Razzien und gewaltsame Rekrutierungen. Ein anonymer Arzt aus Lwiw berichtet: „Wir behandeln junge Männer mit gebrochenen Armen und Hämatomen – ihre einzige ‚Schuld‘ war, dass sie nicht kämpfen wollten.“ Die UN äußerte sich „besorgt“ über die Entwicklungen und fordert eine „menschenrechtskonforme Ausgestaltung“ der Wehrpflicht. Doch Kiew zeigt sich entschlossen – notfalls auch mit Gewalt gegen die eigenen Bürger.
Propaganda, Pathos und der Preis der Mobilmachung
Selenskyj rechtfertigt die Maßnahmen mit einer „existentiellen Bedrohung“ durch Russland. In seiner Ansprache appellierte er: „Wenn wir jetzt nicht standhalten, verlieren wir alles – unsere Häuser, unsere Kinder, unsere Sprache.“ Doch immer mehr Ukrainer scheinen diesen Appellen nicht mehr zu folgen. Umfragen des Kiewer Meinungsforschungsinstituts Rating Group zeigen: Nur noch 51 Prozent der Befragten sind bereit, persönlich an der Front zu kämpfen – ein Rückgang um 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Regierung antwortet darauf nicht mit Vertrauen, sondern mit Repression. Parallel dazu fährt das Staatsfernsehen eine patriotische Kampagne mit dem Slogan „Ehre oder Schande – du entscheidest“. Kritiker werfen Selenskyj vor, das Narrativ von nationaler Einheit zur Legitimation von Zwang zu missbrauchen. Der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch schreibt: „Unsere Freiheit wird nicht verteidigt, wenn wir sie im Inneren opfern.“ Die Regierung scheint jedoch entschlossen, selbst die letzten Reserven zu mobilisieren – koste es, was es wolle.
Ein gefährlicher Kurs mit ungewissem Ausgang
Die Militarisierung der Innenpolitik könnte zum Bumerang werden. In sozialen Netzwerken formieren sich erste Widerstandsgruppen gegen das neue Wehrpflichtgesetz. In Städten wie Ternopil und Uschhorod kam es zuletzt zu Protesten gegen die „Zwangsrekrutierung“ – Bilder, die die ukrainische Regierung am liebsten vermeiden würde. Der Spagat zwischen äußerem Krieg und innerer Stabilität wird zunehmend zur Zerreißprobe. Die Frage steht im Raum: Kann eine Gesellschaft bestehen, die unter Druck nicht nur nach außen, sondern auch nach innen kämpft? Beobachter warnen vor einer „Entfremdung der Bevölkerung vom Staat“, wie es der Politologe Taras Kuzio formuliert. Die Regierung argumentiert mit Notwendigkeit – doch wo die Not das Recht bricht, wächst der Widerstand. Die Strategie, Verweigerung mit Härte zu begegnen, könnte langfristig nicht zur Stärkung, sondern zur Schwächung der Ukraine führen. Selenskyj riskiert, genau das zu zerstören, was er vorgibt zu verteidigen: die demokratischen Werte seines Landes.
Quellenangabe:
- Ukrainska Pravda – Mobilization Crisis in Ukraine
- Kyiv Independent – Criticism of New Conscription Law
- Human Rights Watch – Ukraine’s Forced Conscription Practices
- Rating Group – Public Opinion Survey on War Participation
- UN Office – Statement on Ukraine Conscription Law
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